Samstag, 25. Juni 2011

Der grüne Irrationalismus

Bündnis 90/Die Grünen und ihre Anhänger haben ein Problem: Sie sind zu einer vernünftigen Politik, die die Zeitverhältnisse mit einkalkuliert, unfähig. Statt dessen feiert die ideologische Verblendung fröhliche Urständ.

Beispiel 1: Energiepolitik

Vorab: Es gibt gute Gründe, die sowohl für als auch gegen die Nutzung der Kernenergie zum Zwecke der Stromerzeugung sprechen. Doch die Grünen reiten auf einer Welle der Angst, die die Deutschen seit Fukushima erfaßt hat. Dabei wollen die Grünen ja nicht nur den Ausstieg aus der Atomkraft, sondern auch den aus fossilen Energieträgern - d.h. sie wollen eine doppelte "Energiewende". Nur sagen sie das nicht so offen. Tatsache ist jedoch, daß die stillgelegten Kernkraftwerke zumindest mittelfristig durch Kohle- und Gaskraftwerke substituiert werden müssen. Dummerweise steigt damit der CO2-Ausstoß an und befördert so die zweite Horrorvision, mit der die Grünen Panik machen: die Klimakatatstrophe. Man kann aber realistischerweise nicht auf beide Technologien zugleich verzichten.

Die vielgepriesenen erneuerbaren Energien sind auch nicht das wahre. Hier in Sachsen-Anhalt sind die Grünen z.B. der Meinung, daß keine weiteren Windkraftanlagen gebaut werden sollten. Andernorts werden Wasserkraftwerke blockiert, weil sie angeblich zu stark in natur und Landschaft eingreifen. Fazit: Die Grünen wollen keine Atomkraft, keine fossilen Brennstoffe, keine neuen Windräder und auch keine Wasserkraft. Nur wo soll, bitteschön, der Strom herkommen, den unsere Gesellschaft und die Indsutrie benötigen? Eine Antwort darauf bleiben die Grünen schuldig.

Beispiel 2: Stuttgart 21

Auch in diesem Fall gilt, daß es viele Argumente für und wider das Großprojekt gibt. In Baden-Württemberg haben die Grünen von der Abneigung gegen den Bahnhofsumbau profitiert und stellen nun den Ministerpräsidenten. Gleichwohl sehen sie sich außerstande, Stuttgart 21 mit legalen Mitteln aufzuhalten. Die Bahn ist hinsichtlich des Baus im Recht und sogar der Schlichter Heiner Geißler hatte den Weiterbau empfohlen. Anstatt sich nun in ihr Schicksal zu fügen und die Spielregeln des demokratischen Rechtsstaates zu akzeptieren, reißen die "verbürgerlichten" Grünen und ihre Anhänger sich die Maske vom Gesicht und greifen zum Mittel der blanken Gewalt, um die Bauarbeiten zu behindern, wie am 20. Juni in Stuttgart geschehen.

Fazit: Die Grünen sind für Freiheit und Demokratie - aber nur solange, wie es um Ziele geht, die ihrer linksautonomen Ideolgie entsprechen. Wenn man mit Worten nicht weiterkommt, dann lassen auch die Grünen von heute lieber die Fäuste sprechen, wie schon anno dazumal Joschka Fischer mit seiner "Putzgruppe". An dieser Partei hat sich nichts geändert und schon gar nicht gebessert. Aber sie spielen sich als Heilsbringer auf und nicht wenige unserer Landsleute fallen darauf herein.


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Freitag, 17. Juni 2011

Das instabile Dreieck Rumänien-Ukraine-Moldawien

Karte 1: Das Schwarze Meer und die anliegenden Staaten.


Im Weblog Einzelplan 14 hat die rumänische Politologin Iulia Joja im März einen Artikel über „Europas Westen, Osten und neuer Osten in Afghanistan“ veröffentlicht. Dieser Text war auf die Erwartungen des außen- und sicherheitspolitischen Mainstreams in Deutschland zugeschnitten. So hat die Autorin ein sattsam bekanntes Klagelied angestimmt, in dem sie immerhin viermal von einer angeblichen Bedrohung Rumäniens und anderer osteuropäischer Staaten durch Rußland spricht. Der RF werden sogar territoriale Forderungen gegenüber Nachbarstaaten angedichtet. Diese These überrascht, denn ein Blick auf die Karte verrät auch dem oberflächlichen Betrachter, daß Rumänien weder über eine Land- noch über eine Seegrenze mit der Rußländischen Föderation verfügt. Jedoch mit zwei anderen Nachfolgestaaten der UdSSR: der Ukraine und Moldawien (Moldau/Moldova).

Des weiteren zeigt ein Blick in die Geschichte, daß es gerade für Rumänien keinen Grund gibt, Angst vor „den Russen“ zu haben. Im 19. Jahrhundert hat das Zarenreich die Befreiung Rumäniens und Bulgariens aus dem Verband des Osmanischen Reiches erkämpft und ihnen damit die staatliche Selbständigkeit ermöglicht. Im Ersten Weltkrieg stand Rumänien auf seiten der Entente, im zweiten zunächst auf der der Achsenmächte. Das Land kam jedoch aufgrund des Bündniswechsels unter dem wiedereingesetzten König Michael I. recht glimpflich davon.

Selbst als Rumänien später sozialistisch wurde, spielte es innerhalb der Organisation des Warschauer Vertrages eine Sonderrolle, und nahm seit 1967 nicht mehr an der militärischen und nachrichtendienstlichen Kooperation teil. Zugleich wurden die Diktatoren Gheorgiu-Dej und Ceaușescu im westlichen Ausland und in der VR China hofiert und für ihre seit Mitte der 1950er Jahre wachsende Distanz zur UdSSR fürstlich belohnt. Im Lande herrschte ein nationalkommunistisches Regime mit stalinistischen, später unter Ceaușescu auch dynastischen Zügen. (Chruschtschows Entstalinisierung war einer der Gründe des Zerwürfnisses gewesen.)

Rumänien war 1971 das erste sozialistische Land, welches der Weltbank und der GATT beitrat. 1972 folgte die Mitgliedschaft im IWF und 1973 schuf die EG spezielle Verbindungen zu Rumänien. Erst in den 80er Jahren verschlechterte sich die Wirtschaftslage rapide und auch der Westen begann, die Menschenrechtslage zu kritisieren. All dem hat die einstmals mächtige Sowjetunion zugesehen und hat nichts gegen den rumänischen Sonderweg im „sozialistischen Lager“ unternommen. Weshalb also sollte Rumänien heute von Rußland (militärisch) bedroht werden?

Da eine solche Bedrohung nicht auszumachen ist, liegt der Verdacht nahe, daß es der Dame darum ging, ihren deutschen Lesern Sand in die Augen zu streuen und die wahre rumänische Außenpolitik zu verschleiern. Denn diese ist seit dem NATO-Beitritt 2004 auf offene Expansion gerichtet – ein Tatbestand, der hierzulande kaum zur Kenntnis genommen wird.
Die Ziele der rumänischen Politik liegen in ihren nordöstlichen Nachbarstaaten Ukraine und Moldawien. Zunächst sollen die Konflikte mit der Ukraine näher untersucht werden.


Die ukrainische Schlangeninsel im Schwarzen Meer - völkerrechtlich allerdings keine Insel, sondern ein Felsen.


Konflikt 1: Seegebiete

Seit Ende der 1990er Jahre schwelte zwischen beiden Staaten der Streit um die Ziehung der Grenzlinie im Schwarzen Meer, wobei der ukrainischen Schlangeninsel und ihrer völkerrechtlichen Einstufung entscheidende Bedeutung zukam. Dies betraf nicht nur die Hoheitsgewässer, sondern auch die Ausschließliche Wirtschaftszone, denn unter dem Meeresboden liegen große, bisher kaum erschlossene Erdöl- und Erdgaslagerstätten. Hinzu kommt, wie üblich, die Frage der Fischereirechte.

Im September 2004 brachte Rumänien den Fall vor den Internationalen Gerichtshof. Die ukrainische Führung unter Präsident Juschtschenko hatte eilig erklärt, sie werde jedes Urteil ohne Vorbehalte akzeptieren. Offenbar erhoffte man sich dadurch die Unterstützung Rumäniens für einen Beitritt der Ukraine zu EU und NATO. Der IGH verkündete, nach schwierigen Erörterungen, am 3. Februar 2009 sein Urteil. Sonach wurde das umstrittene Seegebiet zwischen beiden Staaten aufgeteilt, wobei Rumänien mit etwa 79 % den Löwenanteil erhalten hat (siehe Karte 2).

Die Urteilsbegründung ist durchaus nachvollziehbar (insofern ist die Entscheidung auch gerecht), gleichwohl hat der Fall in der Ukraine hohe Wellen geschlagen. Der Verdacht des Ausverkaufs nationaler Interessen stand im Raum und Ministerpräsidentin Julia Timoschenko kündigte während des Präsidentenwahlkampfs 2010 an, sie wolle im Falle eines Wahlsieges die Entscheidung des IGH revidieren.

Die staatliche Zugehörigkeit der Schlangeninsel selbst war in der Klage übrigens ausgeklammert worden. Doch schon seit Anfang der 1990er Jahre war in der rumänischen Presse immer wieder ihre „Heimholung“ verlangt worden – zu dem bezeichnenden Zweck, darauf einen NATO-Stützpunkt zu errichten. Deshalb sollte in Den Haag ursprünglich auch auf die Rückgabe dieses Eilands geklagt werden.


Karte 2: Die Aufteilung des Kontinentalschelfs nach dem IGH-Urteil.


Konflikt 2: Donaudelta

Die Ukraine zählt zu den Anliegern der Donau. Ab 2004 wurde der nördliche Donauarm Bystroe (Chilia) auf 15 km Länge kanalisiert, so daß die ukrainischen Donauhäfen Ismail, Kilija, Wilkowo und Reni über ihn vom Schwarzen Meer aus auch für Küstenmotorschiffe bequem erreichbar sind (Bystre-Kanal). In Rumänien wird befürchtet, daß dies negative Folgen für die Umwelt im Donaudelta haben könnte, was von Kiew bestritten wird.

Im Jahr 2009, also kurz nach der Verkündung des o.g. IGH-Urteils, erhoben sich in Rumänien Stimmen, die eine Verlegung der Staatsgrenze im Donaudelta forderten. Aufgrund hydrographischer Gegebenheiten hatte sich der Hauptschiffahrtsweg (und damit die eigentliche Strommitte, die zugleich die Staatsgrenze darstellt) im Laufe der Zeit immer mehr nach Norden verlagert. Zuvor verlief er zwischen der ukrainischen Insel Maikan im Norden und der rumänischen Insel Babin im Süden. Jetzt verläuft die Fahrrinne durch ukrainische Gewässer nördlich von Maikan. Deshalb solle, so Bukarest, der Grenzverlauf angepaßt und Maikan rumänisch werden. Während man in Kiew bereit war, über eine gemeinsame Verwaltung des Schiffahrtsweges zu diskutieren, stand dort eine Übergabe der Insel an Rumänien nie zur Debatte.

Als dies im vergangenen Jahr öffentlich bekannt wurde, entbrannte in der Ukraine eine heftige Debatte, die besonders von Politikern aus dem Timoschenkos Umfeld heftig geführt wurde. Es hieß, das Land dürfe keine Schwäche zeigen. Auch Präsident Janukowitsch erklärte im Dezember 2010 vor Diplomaten seines Außenministeriums, daß die Zeit der „weichen Ukraine“ vorbei sei.

Während dieser zweite Teilkonflikt vorerst weiterzuschwelen scheint, könnte der erste um den schon seit geraumer Zeit fertiggestellten Bystre-Kanal zwischen Donau und Schwarzem Meer in diesem Sommer ernst werden. Der Grund hierfür soll Medienberichten zufolge im ökonomischen Erfolg der Wasserstraße liegen. Da sie besser ausgebaut und bequemer befahrbar sei als die rumänischen Mündungsarme, würde sie mittlerweile von mehr Schiffen als ihr rumänisches Pendant benutzt (131 vs. 107 Schiffsbewegungen). Damit drohten Einnahmeverluste für den rumänischen Staat (Transitgebühren).

Deshalb habe die Regierung in Bukarest jetzt wieder ihr ökologisches Herz entdeckt und wolle gegen den Kanal vorgehen. Zunächst sollen internationale Gremien (möglicherweise erneut der IGH) damit befaßt werden, doch auch einseitige Maßnahmen der rumänischen Seite seien nicht auszuschließen, wie sie 2010 schon im Streit um Maikan ergriffen wurden. Damals hatten rumänische Behörden Dämme geöffnet, was dem rumänischen Donauarm wieder schiffbar machen sollte. Infolgedessen ist es jedoch auch auf der ukrainischen Seite zu Überschwemmungen gekommen.

Man könnte diese, auf den ersten Blick vielleicht kleinlich wirkenden Konflikte einfach als unbedeutende Nebenkriegsschauplätze abtun. Aus ukrainischer Sicht sind sie jedoch die ersten Vorboten einer größeren rumänischen Expansion. Und für diese Auffassung gibt es durchaus gute Gründe.


Karte 3: Die ukrainischen Donauhäfen und der Donau-Schwarzmeer-(Bystre-)Kanal (Nr. 7) im System des Donaudeltas.


Historische Hintergründe: Bessarabien

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts waren die später als Bessarabien bezeichneten Gebiete, die heute zu Moldawien und der Ukraine gehören, dem Türkischen Imperium abgenommen und an das Russische Reich angegliedert worden. Seinerzeit bestand die Mehrheit der Bevölkerung aus Rumänen, auch wenn dieser Terminus damals noch nicht gebräuchlich war. (In der zeitgenössischen Literatur ist von der Walachei und Moldau die Rede.) Im Laufe des 19. Jahrhunderts wechselten einige Teilgebiete zwischen dem Rußland und dem neugebildeten rumänischen Staat.

Als 1917 das Zarenreich zerfiel, bildeten sich – wie vielerorts zu dieser Zeit – in Bessarabien politische Körperschaften, die den Anschluß an Rumänien verlangten. Bereits im Dezember 1917 rückten rumänische Truppen in das Gebiet ein, im März 1918 wurde formell der Anschluß vollzogen. Dem wollten die Ententemächte jedoch nicht zustimmen: Ebenfalls im März 1918 vermittelten sie den Vertrag von Rassy zwischen Rumänien und Sowjetrußland, der den Rückzug der rumänischen Truppen aus Bessarabien vorsah. Infolge des andauernden Bürgerkrieges und des deutsch-österreichischen Einmarschs in die Ukraine war die sowjetische Seite jedoch zu schwach, so daß die Rumänen im Lande bleiben konnten. Gleichwohl hat die UdSSR ihren Anspruch auf Vertragserfüllung – und damit den Anspruch auf Rückgabe Bessarabiens – zu keinem Zeitpunkt aufgegeben.

Ende Juni 1940 besetzten sowjetische Truppen Bessarabien, nachdem es zuvor von Rumänien geräumt worden war. Der Ribbentrop-Molotow-Pakt hatte dies möglich gemacht. Der östliche, am Schwarzen Meer gelegene Teil wurde an die Ukrainische SSR angegliedert, während der westliche Teil, zusammen mit vorher ukrainischen Gebieten (Transnistrien), die neue Moldawische Sozialistische Sowjetrepublik bildete. Von einem kurzen Zwischenspiel unter der deutsch-rumänischen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges abgesehen, verblieb es bei dieser Zuordnung bis zum Ende der UdSSR.


Karte 4: Bessarabien (1918-1940).


Die rumänische Politik gegenüber der Ukraine

Verbleiben wir vorerst bei den ukrainischen Aspekten des Problems; auf die Moldawien und Transnistrien betreffenden Fragen wird weiter unten eingegangen.
Offiziell betonen rumänische Politiker immer wieder, daß sie der Ukraine beim Weg in NATO und EU behilflich sein wollen. In der Realität ist die Bukarester Politik keineswegs so freundlich. Nicht wenige Bürger und Politiker scheinen dem imperialen Traum von einem „Großrumänien“ anzuhängen; es gibt sogar eine politische Partei, die so heißt: Partidul România Mare. Immer weitergehender werden auch die territorialen Forderungen. Ging es zunächst „nur“ um eine Abtretung von Teilen des ukrainischen Kontinentalschelfs im Schwarzen Meer und um den Ausbau eines Schiffahrtsweges, so fordert Rumänien jetzt schon um Landgebiete.

Im Streit um die oben bereits erwähnte Insel Maikan im Donaudelta haben rumänische Amtsträger nun nachgelegt. Sie fordern nicht mehr nur diese Insel, sondern die Rückgabe sämtlicher Gebiete, die nach Ende des 2. WK an die Sowjetunion übergeben worden waren. Es sind dies die Schlangeninsel im Schwarzen Meer, die Inseln Maikan, Ermakow und weitere, z.T. namenlose Inseln im Donaudelta. Das dahinterstehende strategische Ziel ist die vollständige rumänische Kontrolle über das Mündungsgebiet der Donau. Als rechtlichen Anknüpfungspunkt hierfür verweist Bukarest auf die 2009 verabschiedete Deklaration der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, in der der Nationalsozialismus und der Stalinismus mit einem Gleichheitszeichen versehen und beide als verbrecherisch bezeichnet werden. Damit sei auch die Übergabe der Inseln an die UdSSR rechtswidrig gewesen und die Ukraine als deren Rechtsnachfolger müsse sie zurückgeben.

Damit ist die territoriale Expansion Rumäniens zu Lasten der Ukraine bereits in ihr drittes Stadium getreten. Doch damit nicht genug. Zumindest in Teilen der rumänischen Gesellschaft träumt man von einer „Rückgabe“ sämtlicher ukrainischen Gebiete, die irgendwann einmal zu Rumänien gehörten. Dies betrifft insbesondere Teile der Regionen Odessa und Tscherniwzi.
Eine offene Rückeroberung steht in Bukarest noch nicht auf der Tagesordnung, wohl aber eine verdeckte. Diese geschieht insbesondere durch das Verleihen der rumänischen Staatsbürgerschaft an Ukrainer – bisher in etwa 100.000 Fällen. Seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahre 2009 dürfen rumänische Pässe auch an Ausländer ausgegeben werden, die in Gebieten leben, die 1940 zum rumänischen Staat gehörten. Dafür sind nicht einmal Kenntnisse der rumänischen Sprache erforderlich.

Die Motive, aus denen heraus Ukrainer einen rumänischen Paß beantragen sind vermutlich zumeist individueller Natur, denn durch diese doppelte Staatsbürgerschaft werden sie zu EU-Bürgern und kommen in den Genuß aller damit verbundenen Rechte. Dennoch darf man das damit einhergehende politische Konfliktpotential nicht unterschätzen, denn diese Ukrainer kommen dürfen in Europa nicht nur visafrei reisen, sondern haben auch das Wahlrecht zum rumänischen sowie zum EU-Parlament.
Wem sie wohl ihre Stimme geben werden? Welchem Staat wird in einer Konfliktsituation ihre Loyalität gehören? Es gibt durchaus gute Gründe dafür, daß das Völkerrecht nach wie vor davon ausgeht, daß doppelte Staatsbürgerschaften die Ausnahme bleiben sollten.


Bauarbeiten am umstrittenen Bystre-Kanal zwischen Donau und Schwarzem Meer.


Strategische Rahmenbedingungen

Um es vorweg zu sagen: Ein rumänischer Feldzug gegen die Ukraine, um die „verlorenen“ Gebiete zu „befreien“, ist mittelfristig nicht zu befürchten. Dafür sind die Streitkräfte Rumäniens zu schwach. Das Land hat – ebenso wie die Ukraine – unter ökonomischen Problemen zu leiden. Trotzdem schließen Beobachter einen räumlich begrenzten Militäreinsatz im Donaudelta nicht aus, denn dort ist das ukrainische Militär kaum vertreten und die Inseln sind nicht groß und zudem unverteidigt. Die frühere sowjetische Donauflottille wurde nach 1991 praktisch aufgelöst, während Rumänien auf dem Strom nach wie vor zwei Flußkriegsschiffsabteilungen mit zusammen 26 Kampfschiffen unterhält. Hinzu kommt das 307. Marineinfanteriebataillon, welches im Donaudelta stationiert ist. Um hier kein Ungleichgewicht aufkommen zu lassen, verlegt die ukrainische Armee jetzt ein mechanisiertes Bataillon auf ihre Seite der Donau.

Die rumänischen Eliten fühlen sich offenbar stark genug, um – mit Unterstützung ihrer Verbündeten aus NATO und EU – mit der Ukraine alleine fertigzuwerden. Deshalb hat sich Präsident Traian Băsescu im vergangenen Jahr mehrfach erbost darüber geäußert, daß Rußland überhaupt noch eine Schwarzmeerflotte unterhält und sie – infolge der Vertragsverlängerung zwischen der Ukraine und der RF – auch weiterhin in Sewastopol basiert sein wird. Er erkennt zutreffend, daß die Interessen der beiden Staaten hinsichtlich der rumänischen Expansionsbestrebungen weitgehend deckungsgleich sind. Beide verwahren sich gegen eine Revision ihrer Staatsgrenzen. (Auch gegen die RF werden bisweilen solche Forderungen erhoben.) Und die rußländischen Streitkräfte sind u.U. die einzige Macht, die die rumänische Führung von einer gewaltsamen Expansion in nördlicher Richtung abhalten könnten. Deshalb spinnt man in Bukarest an der eingangs erwähnten Mär von einer „russischen Bedrohung“.

Noch offen scheint zu sein, wie sich die Türkei als die (kommende?) Hegemonialmacht des Schwarzen Meeres in dieser Frage positionieren wird. Klar ist jedoch, daß die rumänische Politik für die übrigen Mitgliedsstaaten von NATO und EU eine schwere Hypothek bedeutet. Sollte sich der Konflikt zuspitzen, dann wird von ihnen erwartet, automatisch auf die Seite ihres Verbündeten zu treten – unabhängig davon, ob er die Auseinandersetzung maßgeblich herbeigeführt hat. Mithin besteht auch die Gefahr, daß Deutschland mittelbar für die rumänische Expansionspolitik haftbar gemacht wird und dafür mit einstehen muß. Dies ist der Grund, weshalb die Erweiterung zumindest der NATO nach Osteuropa so riskant war und ist, denn dadurch wurden die Konflikte der nicht saturierten Beitrittsländer zu einer Gemeinschaftssache – mit möglicherweise unabsehbaren Folgen.

In der Ukraine und Rußland sehen Beobachter jedenfalls schon große Probleme heraufziehen. Vor allem weil Rumänien bereits NATO-Stützpunkte auf seinem Staatsgebiet beherbergt und sich auch als Standort für Komponenten der geplanten Raketenabwehr angeboten hat. Dies bedeutet eine starke politische Aufwertung Bukarests. Ein Analyst zieht sogar den historischen Vergleich zum Krimkrieg (1853/56), als eine Koalition aus Briten, Franzosen, Türken und Italienern gegen das Rußland kämpfte und es vom Schwarzen Meer verdrängen wollte. Im Gefolge dieses Krieges erhielt Rumänien übrigens einige Gebiete, die zuvor zum Zarenreich gehört hatten. Deshalb erscheint die historische Analogie gar nicht so überzogen, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag.



Das Problem Moldawien/Transnistrien

Das zweite Ziel, auf das sich die rumänischen Expansionsbestrebungen richten, ist Moldawien. Diese ehemalige Sowjetrepublik besteht zum Großteil aus Gebieten, die zwischen 1918 und 1940 zu Rumänien gehörten. Moldauer – so nennt man die ethnischen Rumänen offiziell – machen 64 % der Einwohnerschaft aus. Jeweils rund 13 % sind Ukrainer und Russen, also Ostslawen. Diese Bevölkerung ist jedoch regional höchst unterschiedlich verteilt. Während im moldawischen Kernland die Rumänen mit 71 % die deutliche Mehrheit stellen, sind sie in Transnistrien mit 31 % in einer Minderheitenposition. Dort stellen die slawischen Völker die Mehrheit (28 % Ukrainer, 30 % Russen).

Damit liegt die ethnische Dimension des Transnistrienkonfliktes, der seit 1989 schwelt, in den Jahren 1991/92 gewaltsam ausgetragen wurde und faktisch zur Teilung Moldawiens geführt hat, offen zutage. Hinzu kommt die historische: Transnistrien gehörte niemals zu Rumänien, sondern zwischen 1918 und 1940 zur Ukraine. Erst nachdem Bessarabien sowjetisch geworden war, wurde das Gebiet der neuen Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Dies ist der Anlaß des Transnistrienkonflikts und der bis heute andauernden Teilung Moldawiens: Die rumänische Mehrheitsbevölkerung forderte seit Beginn der 1990er Jahre immer wieder den Anschluß Moldawiens an Rumänien. Dem wollen jedoch die meisten Menschen in Transnistrien nicht zustimmen. Mithin ist die „rumänische Frage“ zum Spaltpilz des Landes und zum Anlaß für einen blutigen Bürgerkrieg geworden.

1992 konnte der Krieg nach dem massiven Eingreifen rußländischen Militärs unter dem Kommando von General Alexander Lebed einigermaßen pazifiziert werden. Seither überwacht eine multinationale Friedenstruppe, die aus moldawischen, transnistrischen, rußländischen und ukrainischen Soldaten besteht, den Waffenstillstand. In der Folge wurde die Republik Transnistrien jedoch de facto selbständig und ist es bis heute, auch wenn ihr die internationale Anerkennung fehlt.
Sie ist ein Ministaat von rund 550.000 Einwohnern, der am Ostufer des Dnjestrs liegt und allein weder politisch noch ökonomisch lebensfähig. Die Aussicht, möglicherweise als kleine ethnische Minderheit in einem Großrumänien leben zu müssen, setzt der Verhandlungs- und Kompromißbereitschaft der Regierenden in Tiraspol jedoch Grenzen. Im Jahr 2006 fand ein Referendum über die Unabhängigkeit statt, bei dem 97 % der Stimmen für selbige waren. Die Gegenseite – also das übrige und weitaus größere – (Kern-)Moldawien besteht hingegen auf der Wiederherstellung der staatlichen Einheit in den Grenzen der ehemaligen Moldawischen SSR.


Karte 5: Moldawien und das de facto selbständige, international aber nicht anerkannte Transnistrien.


Rumänien und Kern-Moldawien

Wie oben bereits aufgezeigt, betrachtet Rumänien auch Moldawien (oder zumindest Teile davon) als historischen Besitz (Bessarabien) und so wird von Bukarest eine Vereinigung angestrebt, um „kommunistisches Unrecht“ wiedergutzumachen. Auch hier wird besonders mit dem Instrument der rumänischen Staatsbürgerschaft operiert. Mehr als 100.000 moldawische Bürger sind bereits im Besitz eines rumänischen Passes und somit bereits heute EU-Bürger. (Zum Vergleich: Das Land hat ohne Transnistrien 2,7 Mio. Einwohner.)

Diese Avancen aus dem Süden stoßen in Kern-Moldawien auf eine weitaus größere Gegenliebe als in der Ukraine. Da gibt es zunächst eine große kulturelle Verbundenheit. Die meisten Moldawier sind ethnische Rumänen, wenngleich sie in offiziellen Dokumenten als „Moldauer“ tituliert werden. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde das Rumänische zur alleinigen Amtssprache des Landes. Ferner sind die politischen Eliten, insbesondere die derzeit regierende Allianz für europäische Integration unter den Herren Ghimpu und Filat ist stark auf ein Zusammengehen mit Rumänien orientiert. Die Bevölkerung ist davon etwas weniger begeistert. Laut einer Umfrage vom März plädieren nur 5 % der Bürger für eine Vereinigung der beiden Staaten. Gleichwohl ist der Kurs in diese Richtung abgesteckt, zumal unter den jüngeren Bürgern.

In Rumänien sind Regierungspolitik und -propaganda ganz auf Expansion ausgerichtet, nicht nur in der Staatsbürgerschaftsfrage. Mehrfach erklärten Vertreter Bukarests, daß sie die rumänisch-moldawische Staatsgrenze nicht anerkennen würden und auf ihr rasches Verschwinden hoffen. Der im November 2010 zwischen beiden Staaten nach langjährigen Verhandlungen unterzeichneter Grenzvertrag klammert die Frage des Verlaufs der Staatsgrenze explizit aus.
Überdies hat der rumänische Präsident behauptet, die ca. 1500 rußländischen Soldaten in Transnistrien stellten eine Bedrohung Rumäniens dar. Sollte es notwendig werden, würden rumänische Truppen in Moldawien einmarschieren, um ihren bedrohten „Brüdern“ zu helfen.
Diese Erklärungen sind nur dann sinnvoll, wenn Rumänien Moldawien (inklusive Transnistrien) bereits jetzt de facto als eigenes Staatsgebiet betrachtet und die Eigenstaatlichkeit Chisinaus nicht anerkennt. Und die Republik von Tiraspol sieht Bukarest vermutlich als Zugabe oder Entschädigung, so daß sie ebenfalls einem künftigen Großrumänien einverleibt werden müsse. Dummerweise stehen „die Russen“ am Dnjestr zwischen diesem Traum und dessen (ggf. auch gewaltsamer) Umsetzung – eine Friedenstruppe im wahrsten Sinne des Wortes.

Das in Osteuropa häufig gebrauchte Schlagwort von der „euroatlantischen Integration“ kann also in Moldawien nicht nur als der angestrebte Beitritt des Staates zur Europäischen Union, sondern auch als Vereinigung mit Rumänien verstanden werden. Die letztere Variante ist sogar wahrscheinlicher, denn angesichts der schweren inneren Krisen der EU dürfte eine Aufnahme des armen Moldawiens nahezu ausgeschlossen sein. Auf dem Umweg über einen Anschluß an Rumänien könnte dasselbe Ziel leichter erreicht werden, ohne daß es endloser Verhandlungen in Brüssel bedarf.

Käme es zu einer solchen Entwicklung, wären NATO und EU nicht nur räumlich größer, sondern auch über Nacht um 2,7 Mio. Bürger reicher. (An die Auswirkungen auf den Landwirtschaftshaushalt und die Förderprogramme der EU möchte man gar nicht denken.)
Möglicherweise wird sich Moldawien irgendwann selbst aufgeben, wenn der größte Teil der Staatsbürger zugleich die rumänische Staatsbürgerschaft besitzt und damit auch in Rumänien wählen darf. Das ist eine interessante völkerrechtliche Überlegung: Was passiert mit einem Staat, dessen Staatsvolk zum größten Teil auch einem anderen Staatsvolk (hier: dem rumänischen) angehört?
Eventuell würde ein Gebilde namens Moldawien noch weiterbestehen, aber es wäre kaum mehr als eine scheinselbständige Provinz Rumäniens. Die maßgeblichen Entscheidungen würden nicht in Chisinau, sondern in Bukarest getroffen.


Tiraspol, die Hauptstadt Transnistriens.


Was wird aus Transnistrien?

Die große Frage ist nun, welchen Weg Transnistrien in Zukunft gehen wird. Wie könnte der „eingefrorene Konflikt“ am Dnjestr gelöst werden?

Variante Nr. 1 wäre die von der moldawischen Regierung, der EU, NATO, OSZE usw. einhellig geforderte Wiedereingliederung in den moldawischen Staatsverband. Dem steht jedoch das in den letzten Jahren wieder verstärkte Streben Moldawiens nach einer Vereinigung mit Rumänien im Wege. Auch die rumänische Politik hat dazu beigetragen, die Kluft zwischen beiden Teilen Moldawiens zu vergrößern.
Variante Nr. 2 wäre – vielleicht nach einem erneuten Referendum – die vollständige staatliche Unabhängigkeit Transnistriens. Hierdurch könnte der Konflikt endgültig bereinigt werden und beide Teile Moldawiens könnten danach ihren Weg allein gehen. Dem steht freilich entgegen, daß Transnistrien trotz seines hohen Industrialisierungsgrades wirtschaftlich allein wohl kaum lebensfähig wäre.

Damit kommen wir zur immer wieder diskutierten Variante Nr. 3, die sich als Erweiterung der zweiten denken läßt: Transnistrien scheidet zwar aus dem moldawischen Staat aus, schließt sich jedoch einem anderen Staat an. Insoweit kämen nur Rußland oder die Ukraine in Frage.
Eine vierte Variante hat 2009 der seinerzeitige moldawische Parlamentspräsident Mihai Ghimpu ins Spiel gebracht: „Moldova und die Ukraine hätten nach Erlangung der Unabhängigkeit auch die Variante eines Gebietsaustausches für Transnistrien, das nie zu Rumänien gehörte, ins Auge fassen können, wenn Moldova dafür die nördliche Bukowina und das südliche Bessarabien erhalten hätte.“ Die Regierung in Kiew ist allerdings nicht bereit, hierauf einzugehen und eigenes Territorium an Moldawien (oder Rumänien) abzutreten.

Eine Rückkehr des Gebietes nach Moldawien dürfte am unwahrscheinlichsten sein. In den bisher 19 Jahren der Trennung haben sich beide Seiten auseinandergelebt. Kern-Moldawien hat sich konsequent auf Rumänien und die EU orientiert; Transnistrien hingegen auf die Ukraine und Rußland. Überdies war die Trennung das Ergebnis eines blutigen Konflikts, dessen Wiederausbrechen vermutlich niemand wünscht. D.h. die ethnischen und kulturellen Differenzen zwischen den Landesteilen sind mittlerweile politisch geworden. Des weiteren wäre diese Lösung auch ungerecht i.e.S., denn im Falle eines Anschlusses Moldawiens an Rumänien erhielte Bukarest nicht nur 1940 verlorene Gebiete zurück, sondern würde seinen „historischen“ Besitzstand erheblich vergrößern, da Transnistrien vor 1940 ukrainisch war.

Somit erscheint eine wie auch immer geartete Loslösung Transnistriens von Moldawien als beste Lösung. Immerhin haben in den zurückliegenden Jahren mehrere Sezessionsstaaten ihre international anerkannte Unabhängigkeit erlangt (z.B. Kosovo, Süd-Sudan). Es sind keine gewichtigen Gründe ersichtlich, die im Fall Transnistriens dagegen sprechen würden – außer daß sich verschiedene Staaten und internationale Organisationen so stark auf eine Wiedervereinigung festgelegt haben, daß sie ihr Gesicht verlieren würden. Um Transnistrien jedoch nicht zu einer zweifelhaften „Gaunerwirtschaft“ verkommen zu lassen, wäre der Anschluß des Gebietes etwa an die Ukraine eine sachgerechte Lösung – auch wenn man in Kiew davon (noch) nichts wissen will.

Im übrigen wäre ein Anschluß Kern-Moldawiens an Rumänien womöglich auch für die Moldawier die beste Lösung. Das Land steckt in einer schon mehrere Jahre andauernden politischen und ökonomischen Krise. Ein Indiz dafür sind die fast schon im Jahresrythmus stattfindenden Parlamentswahlen. Dies würde auch aus Sicht der EU Vorteile bringen, indem klare Verhältnisse geschaffen würden. Viele Moldawier sind ohnehin bereits EU-Bürger, das Land selbst befindet sich damit jedoch in einer eigenartigen Zwischenlage.


Tiraspol.


Deutschland und das instabile Dreieck

Über Transnistrien wurde auch am 2. Juni auf der deutsch-russischen Konferenz in Berlin diskutiert. Erhellend war, was die beiden Abgeordneten Gernot Erler und Manfred Grund zu diesem Thema gesagt bzw. nicht gesagt haben. Beide hoffen natürlich auf eine rasche Lösung des Konflikts. Doch stellen sie sehr konkrete inhaltliche Vorbedingungen, d.h. es dürfe keine Loslösung Transnistriens von Moldawien geben. (Warum dies kaum erreichbar sein dürfte, habe ich soeben dargelegt.)
Ansonsten hoffen sie darauf, daß die Regierung Rußlands es irgendwann leid sein wird, Tiraspol mit jährlich 700 Mio. Euro zu alimentieren. Dieselbe Hoffnung hegen Erler und Grund auch hinsichtlich Südossetien und Abchasien. Doch das ist unrealistisch, denn diese Staatsbildungen existieren schon seit zwei Jahrzehnten und sie sind damals aus guten Gründen entstanden, als ethnische Minderheiten von einer Mehrheitsbevölkerung politisch und kulturell majorisiert werden sollten.

Die beiden Abgeordneten denken tatsächlich, man könne durch langwierige Verhandlungen eine seit 20 Jahren laufende Entwicklung stoppen und wieder zurückdrehen – allerdings nur, weil sie sich weigern, die Unabhängigkeit dieser Staaten anzuerkennen. Doch gewisse Realitäten sollte man nicht ignorieren. Deshalb hat ein Konferenzteilnehmer ganz treffend eingewandt, im 19. Jahrhundert wären diese schon lange schwelenden Konflikte von einer Konferenz der europäischen Großmächte binnen drei Tagen gelöst worden – indem man die wirkliche Lage anerkannt und formalisiert hätte. Zumal in den genannten Fällen das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch als juristisches Argument dienen könne.
Davon will die politische Klasse in Berlin jedoch nichts wissen. Sie setzt weiter auf Endlosverhandlungen, die jedoch aufgrund ihrer eigenen Vorbedingungen keineswegs ergebnisoffen und deshalb zum Scheitern verurteilt sind.

Bemerkenswerterweise wollten sich weder Erler noch Grund zur rumänischen Paßpolitik in Moldawien und der Ukraine äußern. Wahrscheinlich ist ihnen dieses Gebaren unseres Verbündeten peinlich. In diesem offiziellen Schweigen liegt jedoch die Gefahr, daß man in Bukarest zu der (hoffentlich falschen) Schlußfolgerung gelangen könnte, die übrigen Mitglieder von NATO und EU würden eine rumänische Expansion befürworten.

Leider ist die deutsche Öffentlichkeit über die hier behandelten Problemfelder kaum informiert. Transnistrien wird in den hiesigen Medien nur wenig, die übrigen Konflikte, insbesondere die Rolle Rumäniens, wird fast gar nicht thematisiert. Statt dessen wird entweder so getan, als gäbe es keine ernsthaften Differenzen oder man verfällt in die simplen Schemata vom „armen Rumänien“, das von den „aggressiven Russen“ bedroht wird. Die Ukrainer werden insofern kaum erwähnt, entweder weil sie noch unter „Naturschutz“ stehen oder weil man sie stillschweigend mit unter „Russen“ subsumiert.
Ferner wird klar, wie schwierig das Verhältnis zwischen den Völkern und Staaten in Osteuropa nach wie vor ist. Die Gemengelage ist erheblich komplexer, als daß man sie auf die Verbrechen des Kommunismus, für deren Opfer man Verständnis haben müsse, reduzieren darf. Eines von vielen Beispielen ist die diffizile Situation der Roma in der gesamten Region.

Die Mitgliedschaft in NATO und EU wird von einigen Politikern in Rumänien und anderen neuen Mitgliedsstaaten nicht als defensive Rückversicherung, sondern als Unterstützung ihrer eigenen konfrontativen und z.T. expansiven Politik mißverstanden. Hier ist Deutschland gefordert, auf die Parteien mäßigend einzuwirken und sich als offener, ehrlicher und zielorientierter Makler anzubieten. Schließlich muß Berlin deutlich artikulieren, daß die Bundeswehr nicht in den Krieg ziehen wird, nur weil Rumänien unbedingt das Mündungsgebiet der Donau vollständig beherrschen oder ein paar rumänische Siedlungsgebiete „heim ins Reich“ holen will.


Tiraspol.


Bibliographie

Adjassow, I.: Anerkannte und Abtrünnige im postsowjetischen Raum, RIA Nowosti v. 27.08.2010

Babitsch, D.: Transnistrien-Konflikt - Kein Ausweg aus der Sackgasse?, RIA Nowosti v. 03.11.2010

Greenberg, P.: Economic crisis worsens Ukrainian-Romanian relations, New Europe v. 19.07.2010

Grigorescu, D.: Tricks am Grenzfluss, in: Märkische Allgemeine v. 26.07.2010

Hofbauer, H. / Roman, V.: Bukowina - Bessarabien - Moldawien, Wien 1997

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Rumänien will eine Million Moldawier einbürgern, RIA Nowosti v. 18.05.2009

Rumäniens Präsident sieht russische Soldaten als Bedrohung, RIA Nowosti v. 23.06.2010

Rumäniens Premier: Grenze zu Moldawien verschwindet nach dessen EU-Beitritt, RIA Nowosti v. 23.09.2010

Schinzel, H.: Deutsches Unternehmen gräbt dem Donaudelta das Wasser ab, in: Siebenbürger Zeitung v. 31.08.2004

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Stacheldraht an der Grenze zu Rumänien ist Moldawiens Schande, RIA Nowosti v. 17.12.2009

Stationierung von Elementen eines US-Raketenabwehrsystems in Rumänien vereinbart, RIA Nowosti v. 03.05.2011

Timoschenko will Seegrenze mit Rumänien neu ziehen, RIA Nowosti v. 02.02.2010

Transnistrien-Konflikt - Moldawien manövriert sich ins Abseits, RIA Nowosti v. 25.08.2010

Ukraine wehrt sich gegen Rumäniens neue Gebietsansprüche, RIA Nowosti v. 31.08.2010

Wikipedia: Bessarabien (dt., russ.), Moldawien (dt., russ.), Transnistrien (dt., russ.), Maritime delimitation between Romania and Ukraine (eng.), Transnistrien-Konflikt (dt., russ.)



Am Donau-Schwarzmeer-Kanal.


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Karten: Wikipedia; Fotos: Wikipedia, photohost.ru u.a.

Dienstag, 14. Juni 2011

Fjodor W. Tokarew (1871-1968)

Heute vor 140 Jahren, am 14. Juni 1871, wurde der spätere russische Waffenkonstrukteur Fjodor Wassiljewitsch Tokarew geboren. Er kam in einer armen Kosaken-Familie, die in der Staniza Jegorlykskaja (bei Rostow am Don) lebte, zur Welt. Seit seinem elften Lebensjahr arbeitete er bei Dorfhandwerkern. 1885 trat er in eine Berufsschule für Metallverarbeitung ein und kam erstmals mit dem Bau von Schußwaffen in Berührung. 1888 wurde er - wie bei den Kosaken üblich - Soldat und besuchte eine Unteroffiziersschule in Nowotscherkassk, wo er zum Waffenmeister ausgebildet wurde. Ab 1892 diente er als Waffenmeister im 12. Donkosaken-Regiment.

Von 1896 bis 1900 studierte Tokarew an der Militärtechnischen Schule in Nowotscherkassk und verließ diese als Offizier. Danach kehrte er als leitender Waffenmeister ins 12. Regiment zurück. 1907 wurde er an die Offiziersschießschule in Oranienbaum (bei St. Petersburg) kommandiert. Diese Schule war, zusammen mit den am selben Ort vorhandenen Waffenschule und Schießplätzen, eines der Zentren des Waffenbaus im Zarenreich. Bekannte Konstrukteure von Handfeuerwaffen wie Fjodorow oder Degtjarjow wirkten in Oranienbaum.


Fjodor Wassiljewitsch in seiner Werkstatt.


An diesem Ort begann Fjodor Wassiljewitsch seine Entwicklungsarbeit. 1910 legte er einen ersten Prototypen für die Konversion des Mosin-Nagant-Repetiergewehrs in einen Halbautomaten vor. Die Arbeiten an diesem Projekt gingen bis zum Kriegsausbruch 1914 weiter. Während des 1. WK war Tokarew in der Waffenfabrik von Sestrorezk tätig, zuletzt als als Technischer Direktor. 1919, nach der Oktoberrevolution, wurde er als "Militärspezialist" in die Waffenfabrik nach Ishewsk geschickt; 1921 wechselte er nach Tula. Damit hat Tokarew in fast allen russischen Waffenfabriken seiner Zeit gearbeitet.

Von 1921 bis 1925 arbeitete er an einer Modernisierung des schwerem Maschinengewehrs Maxim, dem "Maxim-Tokarew Modell 1925". Zwei Jahre danach legte er den Prototypen einer "Maschinenpistole Tokarev Modell 1927" vor. Diese vollautomatische Waffe verschoß die vom Nagant-Revolver her bekannte Patrone 7,62 x 38 mm.



Ab 1930 beteiligte er sich am Wettbewerb für eine neue sowjetische Armeepistole. Sein Entwurf mit einem modifizierten Browningverschluß wurde als "Tula-Tokarew Modell 1930" bezeichnet und ging als Sieger aus dem Wettbewerb hervor. 1933/34 wurde die TT-30 weiterentwickelt und schließlich unter dem Namen TT-33 (Tula-Tokarew Modell 1933) als offiziell als neue Seitenwaffe in die sowjetischen Streitkräfte eingeführt. Dort löste sie den Nagant-Revolver M 1895 ab. Bis zum 22. Juni 1941 wurden in Tula rund 600.00 Tokarew-Pistolen produziert. Insgesamt werden es wohl über 1,7 Mio. Stück gewesen sein.
Die TT-33 wurde eine der erfolgreichsten Kurzwaffen des 20. Jahrhunderts, nicht nur wegen ihrer Beteiligung am Zweiten Weltkrieg. Neben der Sowjetunion wurde sie in Polen, Ungarn, Rumänien, China, Jugoslawien und Nordkorea hergestellt; Dutzende von Staaten haben bzw. hatten sie eingeführt. Noch heute bietet Izhmekh in Rußland Schreckschuß- und CO2-Varianten an, was für die Popularität der Waffe spricht.


Eines der bekanntesten sowjetischen Propagandabilder aus dem 2. WK:
Ein Offizier führt den Sturmangriff seiner Einheit an und hält dabei eine TT-33 in der rechten Hand.


Seit Beginn der 30er Jahre arbeite Fjodor Tokarew wieder an Entwürfen für ein Selbstladegewehr. 1933 stellte er einen neuen Prototypen vor. Nach weiteren Arbeiten wurde es 1938 unter dem Namen "Selbstladegewehr Tokarew Modell 1938" (SWT-38) in die Rote Armee eingeführt. Wegen geringfügiger Änderungen erhielt es zwei Jahre später die Bezeichnung "SWT-40".
Dieses Gewehr entwickelte sich zum Markenzeichen der sowjetischen Marineinfanterie; eine größere Anzahl wurde auch als Scharfschützengewehr eingerichtet. Taktisch gesehen sollte das SWT-38/40 in der Infanterie die Maschinenpistolen ergänzen und die Repetiergewehre ablösen - so wie auch das Garand und das Gewehr 41. Die Beliebtheit des SWT-38/40 unter den sowjetischen Soldaten hielt sich in Grenzen, bei den deutschen war es jedoch gefürchtet.
Obwohl über 1,6 Mio. Exemplare produziert worden waren, verschwand das SWT-40 kurz nach Ende des 2. WK aus dem Bestand der aktiven Truppe. Es wurde zunächst vom SKS und dann vom AK-47 abgelöst. Seiner Pistole war hingegen eine weitaus längere Dienstzeit beschieden. Auf Basis des SWT-40 wurde übrigens auch ein Vollautomat entwickelt, der sich jedoch nicht bewährte.



Zwischenzeitlich war Fjodor Tokarew, der mit seinen Waffenentwicklungen entscheidend dazu beigetragen hatte, daß sein Heimatland den Zweiten Weltkrieg überleben konnte, der Doktortitel verliehen worden (1941). Bereits 1933 wurde er als Held der Arbeit und 1940 als Held der sozialistischen Arbeit geehrt.

Nach Kriegsende arbeite Tokarew, der das Renteneintrittsalter schon lange überschritten hatte, weiter in der Waffenbranche. Er wirkte u.a. an den Tests für neue sowjetische Pistolen mit und schrieb Aufsätze. 1948 brach er kurzzeitig aus den angestammten Geleisen aus und entwickelte die Fotoapparate FT-1 und FT-2, deren Fertigung in Krasnogorsk bis 1965 lief. Der Konstrukteur blieb bis ins hohe Alter aktiv. Am 7. Juni 1968, im gesegneten Alter von 97 Jahren, ist Fjodor Wassiljewitsch Tokarew verstorben. Sein Grab befindet sich in Tula. Dort und in St. Petersburg tragen Straßen seinen Namen.
(Mehr über ihn ist hier zu finden.)


Die tschechoslowakische Scharfschützin Marie Ljalková mit einem SWT-40 während des 2. WK.


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Fotos: Wikipedia, www.tokarev.com.

Dienstag, 7. Juni 2011

Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung


Am vergangenen Freitag hatte ich Gelegenheit, in Berlin an der deutsch-russischen Konferenz „Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa“, die anläßlich des bevorstehenden 70. Jahrestages der Operation „Barbarossa“ veranstaltet wurde, teilzunehmen. (Das Programm ist hier zu finden.) Nachfolgend wird auf einige Aspekte dieser Veranstaltung eingegangen, an der auf beiden Seiten namhafte Politiker und Wissenschaftler teilgenommen haben.

In den Einführungsreferaten von Botschafter Wladimir Grinin und dem Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Walter Momper wurde die seit 20 Jahren erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland, etwa auf dem Gebiet der öffentlichen Verwaltung, betont. Momper konnte hier aus seiner Erfahrung der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Moskau berichten. Ähnliches wurde von anderen Teilnehmern vorgetragen. Am unproblematischsten sei die Kooperation auf den Gebieten Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.

Im ersten, primär historischen Teil kamen jeweils zwei Historiker aus Deutschland und der RF zu Wort, die durch Co-Referate anderer Teilnehmer ergänzt wurden. Von besonderem Wert waren die Einlassungen Jochen Laufers und seines Kollegen Alexej Filitow, die gemeinsam am nunmehr vierten Band der Quellenedition „Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948“ arbeiten, der sich insbesondere die Berlinkrise 1948 widmen wird. Schon jetzt deutet sich an, daß dadurch – ebenso wie durch Laufers eigene Forschungen – mancher hierzulande populäre Mythos ins Wanken kommen dürfte.
Laufers These: Nach Kriegsende 1945 richtete sich keine sowjetische Aggressivität nach außen. Vielmehr ging es um eine Absicherung des während des Krieges eroberten Machtbereichs in Osteuropa (Repressivität). In Fragen, die über dieses Territorium hinausgingen, wie z.B. die Meerengenfrage, zeigte Stalin eine erstaunliche Flexibilität und Kompromißbereitschaft.
Daran anschließend fragte Peter Schulze, ob man sich im Westen dessen bewußt gewesen sei und ob der Aufbau gewaltiger Militärapparate nicht möglicherweise instinktiv (also ohne genaue Bedrohungsanalyse) erfolgte.

Im übrigen zeichneten sich Alexander Tschubarjan, Boris Chawkin und Nikolaj Schmeljow durch sachliche und ausgewogene, die neuesten Forschungsergebnisse widerspiegelnde Beiträge aus, die den Verfasser dieser Zeilen für seine weiteren Forschungen angeregt haben.
Besonders Tschubarjan gelang es, die schwierige Gemengelage in der sowjetischen Führung, die sich aus dem Fehlen eines formalisierten und zentralisierten Entscheidungsverfahrens ergab, darzulegen. Manche Entscheidungen der Stalin-Ära werden womöglich nie endgültig zu erklären sein, denn es fehle z.T. schlicht an zeitgenössischen Quellen. Stalin habe vieles nicht schriftlich fixiert und seine Mitarbeiter hätten oft keine eigenen Aufzeichnungen hinterlassen. So auch Molotow, der sich zudem noch kurz vor seinem Ableben in den 1980er Jahren – also lange nach Stalins Tod – weigerte, auf wichtige Fragen sowjetischer Historiker zu antworten. Das hat im konkreten Fall zur Folge, daß die rußländischen Historiker etwa auf die deutschen Protokolle von Molotows Verhandlungen mit Ribbentrop und Hitler zurückgreifen müßten, da es keine Aufzeichnungen der sowjetischen Teilnehmer gebe.

Erhellend auch Peter Jahns Referat über „Täter- und Opferdiskurse in der Kriegserinnerung der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit“, der den langsamen Wandel von der Verdrängung der Verbrechen und dem überhöhten Opfermythos von der „Verteidigung des christlichen Abendlandes“ an den fernen Ufern der Wolga hin zur Aufarbeitung nachzeichnete.
Dies veranlaßte eine Konferenzteilnehmerin zu dem durchaus treffenden Kommentar, daß die Niederlage im Zweiten Weltkrieg für die heutigen Deutschen identitätsstiftend geworden sei und sie aus der Vergangenheitsbewältigung neues Selbstbewußtsein – auch auf der internationalen Bühne – zögen.
Damit hatte die Dame schon vorweggenommen, was sich im weiteren Verlauf der Tagung zeigen sollte: Viele der deutschen Teilnehmer haben das Thema „Vom Krieg zur gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa“ strikt in einen historischen und einen aktuellen Teil getrennt und so getan, als hielte die Geschichte keine Lehren für die Gegenwart bereit. Die russischen Teilnehmer waren hingegen durchweg bemüht, beides in ihren Betrachtungen zu verbinden.

Alexej Gromyko (übrigens der Enkel des früheren sowjetischen Außenministers) benannte drei Syndrome aus der deutsch-sowjetischen Vergangenheit, die z.T. bis in die Gegenwart wirken: das Versailles-Syndrom (Ausschluß der UdSSR aus der europäischen Sicherheitsarchitektur in Gestalt des Völkerbundes), das München-Syndrom als Symbol für Uneinigkeit und das 22.-Juni-Syndrom als Beschreibung der militärischen Überraschung. Ferner meinte er, falls der berühmte Shukow-Plan vom 15. Mai 1941 – also ein sowjetischer Präventivschlag in den seit Ende 1940 erkannten deutschen Truppenaufmarsch hinein – umgesetzt worden wäre, stünde die Sowjetunion heute noch viel stärker am Pranger als ohnehin. Mithin waren Stalins Weisungen, die jegliche „Provokation“ des Dritten Reiches ausschließen wollten, der einzig gangbare Weg, damit sich der spätere Aggressor nicht auf die Position der Selbstverteidigung zurückziehen konnte.

Daran anschließend drehte sich die Tagung um Probleme der Gegenwart und der mittelfristigen Zukunft. Der darin an prominenter Stelle behandelte Transnistrienkonflikt ist es aufgrund seiner Besonderheiten wert, in diesem Blog demnächst gesondert behandelt zu werden.

Die Bundestagsabgeordneten Gernot Erler und Manfred Grund führten u.a. zur Außenpolitik der Europäischen Union aus. Die EU wolle sich mittels ihrer Nachbarschaftspolitik mit einem Ring befreundeter Staaten umgeben. Gleichzeitig erklärte Erler prononciert, das klassische Denken in Einflußsphären gehöre dem 19. Jahrhundert an und habe im 21. Jh. keine Zukunft. Diese These ruft indes beim Betrachter Erstaunen hervor, denn die Staaten, die mittels der Nachbarschaftspolitik an die EU gebunden werden sollen, wären im Ergebnis nichts anderes als eine exklusive und hierarchische Einflußsphäre der EU. Das geht soweit, daß diese Staaten einen Teil des Gemeinschaftsrechts („aquis communautaire“) übernehmen sollen, ohne allerdings an Formulierung dieser Rechtsakte in irgendeiner Form beteiligt zu sein.

Manfred Schünemann und Peter Schulze haben die sich daraus ergebenden Differenzen zwischen Deutschland bzw. der EU und Rußland sehr treffend resümiert: Die EU will in Osteuropa zwar Freunde haben – aber ausschließlich zu den in Brüssel formulierten Spielregeln. Auf der anderen Seite ist die Rußländische Föderation durchaus zur Integration in europäische Strukturen bereit – aber nur zu gemeinsam ausgehandelten, nicht zu einseitig diktierten Bedingungen.
Man könnte es auch anders formulieren: Der „Westen“ erwartet oft, daß die RF in zentralen politischen Fragen einseitig in Vorleistung geht, ohne daß eine Gegenleistung jenseits eines „feuchtwarmen Händedrucks“ oder freundlichen Schulterklopfens absehbar ist. Früher, namentlich mit Präsident Jelzin, hatte man damit regelmäßig Erfolg, doch seit einigen Jahren ist Moskau immer weniger dazu bereit und erwartet – ganz „altmodisch“ – eine konkrete und einigermaßen gleichberechtigte Zusammenarbeit (Stichwort: Win-win-Situation).
Dieses Dilemma zog sich durch die gesamte Konferenz; seine Auflösung erscheint derzeit kaum möglich, auch wenn seine nüchterne Benennung schon ein Gewinn für die weitere Debatte ist.

Des weiteren wurden von den Referenten und Diskutanten zahlreiche Detailfragen angesprochen, deren Erörterung hier nicht möglich ist. Einer der Höhepunkte war zweifelsohne der Vortrag des Brigadegenerals a.D. Klaus Wittmann, der in erfreulicher Offenheit über das Verhältnis der NATO zu Rußland sprach. Deshalb soll seinen Einlassungen hier etwas mehr Raum gegeben werden, zumal er sämtliche relevanten Punkte angeschnitten hat.

Zunächst konstatierte Wittmann, daß der „Westen“ und Rußland heute keine gegenseitige Bedrohung darstellten; die Kriegsgefahr in Europa gehe gegen Null. Beide Seiten stünden vor gemeinsamen Bedrohungen und Herausforderungen (z.B. Drogenhandel, Terrorismus, Proliferation von ABC-Waffen). Der NATO-Gipfel in Lissabon habe erste Fortschritte gebracht, die jedoch noch nicht konkret genug seien. Die NATO müsse bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zur RF ambitionierter vorgehen und brauche ein grundsätzlich neues Programm, das vor allem die Möglichkeiten zur Kooperation betone, denn der Versuch, europäische Sicherheit nicht mit, sondern gegen Rußland zu erreichen, brächte neue Risiken.
Als Probleme bzw. Fehler, die die NATO in der Vergangenheit gemacht habe, benannte er u.a. ein Mißverstehen der russischen Psychologie (Vermitteln eines Gefühls der Ausgeschlossenheit), westlichen Triumphalismus („wir haben den Kalten Krieg gewonnen und ihr habt verloren“) sowie die Nichtratifikation des Angepaßten KSE-Vertrages durch sämtliche Mitgliedsstaaten der NATO, was im Ergebnis zu einem Rückschlag bei der konventionellen Rüstungskontrolle geführt habe.

Insofern unterscheidet sich der Brigadegeneral deutlich (und wohltuend) von einem anderen Referenten – Hannes Adomeit –, dessen Einlassungen in Vortrag und Diskussion sich auf den Tenor bringen lassen, daß die Russen an sämtlichen Problemen im Ost-West-Verhältnis allein schuld seien. Auch einige von Wittmanns Lösungsvorschlägen sind praxisorientiert und erscheinen durchaus realisierbar. So z.B. ein neuer Ansatz für den gescheiterten und inhaltlich mittlerweile obsoleten AKSE-Vertrag, ein neues Format für den NATO-Rußland-Rat, in dem vor allem die gemeinsamen Interessen ausgelotet werden sollen, oder eine verstärkte Kooperation der NATO mit der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS/CSTO), insbesondere hinsichtlich der Probleme in und um Afghanistan.

Andererseits zwingen manche seiner Einlassungen zur kritischen Nachfrage. So meint Wittmann, der Vorwurf, die NATO habe in den 1990er Jahren aus der Schwäche Rußlands Kapital gezogen und sich nach Osten ausgedehnt, sei unberechtigt. Dabei dürfte dies für jeden verständigen Betrachter, der eine Landkarte lesen kann, evident sein. Auch seine Zweifel, es habe seitens der NATO keine Zusagen für den Verzicht auf eine Ostausdehnung gegeben, werden bei einem Blick in zeitgenössische Quellen widerlegt. Was sonst sollte z.B. der Sinn von Artikel 5 Absatz 3 des Zwei-plus-vier-Vertrages sein? Warum sollten seitens der NATO-Staaten 1990 nicht auch weitere, freilich nicht rechtsverbindliche Erklärungen mit ähnlichem Inhalt abgegeben worden sein?

Ferner hat Wittmann (wie auch Erler und Grund) mehrfach ein neues außen- und sicherheitspolitisches Denken innerhalb Rußlands eingefordert. Vor allem die Eliten in Politik und Militär sollten von den überkommenen Denkmustern des Kalten Krieges Abstand nehmen. Dieser Vorwurf ist zum Teil durchaus berechtigt, solche Personen gibt es, auch unter den Journalisten und Publizisten. Allerdings übersieht der frühere General ebenso wie die beiden Abgeordneten zweierlei: Erstens erscheinen einige der rußländischen Vorbehalte durchaus berechtigt, wenn man die Sache nicht aus der Berliner, Brüsseler oder Washingtoner Perspektive betrachtet, sondern von Moskau aus. Deshalb geht der implizit mitschwingende Vorwurf der Irrationalität des russischen Denkens fehl und deutet eher auf einen Mangel an eigener Empathie hin.

Zweitens sollte, gerade wenn ein gemeinsamer Neuanfang gewünscht wird, nicht verschwiegen werden, daß das politische Denken in den Schemata der Blockkonfrontation auch in den NATO-Staaten noch virulent ist. Ist hier etwa kein Umdenken erforderlich?

Es mutet beispielsweise seltsam an, wenn im März diesen Jahres der amerikanische Director of National Intelligence, James Clapper, vor dem Senat davon spricht, daß Rußland für die USA eine schwere Bedrohung darstelle, gegen die man sich unbedingt wappnen müsse. Oder wenn die Außenministerin Hillary Clinton vor dem Kongreß unumwunden einräumt, daß die US-Regierung einen Informationskrieg gegen Rußland (und andere Staaten) führt und dafür neue Haushaltsmittel anfordert. Oder, drittens, der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey, der Rußland mehrfach als „faschistische“ „Diktatur“ beschimpft hat.

Derart „altes Denken“ findet sich in den NATO-Staaten nicht nur auf der politisch-strategischen Ebene, sondern auch auf der militärisch-taktischen. In der Zeitschrift Visier Nr. 3/2010 (S. 131) wird berichtet, daß sich im Pflichtenheft für die Maschinenpistole MP 7 explizit die Forderung befunden habe, daß die kleinkalibrige Munition der MP 7 fähig sein soll, ballistische Schutzwesten rußländischer Produktion zu durchschlagen. Weshalb will die NATO mit ihren Waffen unbedingt russische Schutzwesten durchdringen können? Warum genügen keine abstrakten Kriterien für derartige Tests? Eine Antwort drängt sich auf: Selbstverständlich betrachtet die NATO Rußland nach wie vor als ihren möglichen Hauptfeind, gegen den sich die eigenen Rüstungsanstrengungen zu richten haben.

Drittens sei ein Beispiel für das von Wittmann kritisierte alte Denken genannt, das aus dem Bereich des deutschen „Otto-Normalbürgers“ stammt. Vor einigen Jahren hatte ich eine rußlandbezogene Diskussion mit einem Bekannten aus Hessen, der, als ihm die Argumente ausgingen, bekannte: „Mein Großvater hat gewußt, daß der Feind im Osten steht; mein Vater hat gewußt, daß der Feind in Osten steht; und ich weiß es auch.“ Der junge Mann, dessen genannte Vorfahren bei den Panzertruppen von Wehrmacht und Bundeswehr dienten, war seinerzeit bekennendes Mitglied der Jungen Union und zudem Akademiker, weshalb ich ihm eine bessere Reflektionsfähigkeit zugetraut hätte. Doch nein, statt dessen kam platte Russophobie zum Vorschein, die nicht einmal die – mittlerweile gut dokumentierte – verbrecherische Dimension der deutschen Kriegführung der Jahre 1941 bis 1945 erkennen wollte.

Die Überwindung alter und tiefsitzender Vorurteile und eigentlich obsoleter Denkschemata ist also keineswegs nur in Rußland, sondern auch in den Mitgliedsstaaten von NATO und EU eine drängende Aufgabe. Anderenfalls bleiben vertrauensbildende Maßnahmen im Stadium der guten Absicht stecken.
Leider wurde dies am Freitag von keinem der Teilnehmer thematisiert, denn dann hätte man auch über die Rolle der Medien sprechen müssen. In denen des „Westens“ dominiert seit Jahren ein eindeutig negatives Rußlandbild. Mittlerweile kann dies schon mittels empirischer Untersuchungen belegt werden. Und wenn es ein Medium wagen sollte, gegen diese Einseitigkeit anzuschreiben und sich um mehr Ausgewogenheit und Realitätssinn zu bemühen, dann wird es von den Platzhirschen des Meinungsmonopols – wie etwa in diesem Fall – sofort der „Kreml-Propaganda“ bezichtigt, die die ahnungslosen Deutschen verwirren solle.

Angesichts dessen dürfte das angemahnte und notwendige Umdenken zumindest in Deutschland schwer sein. Die Russen leben ihrerseits schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr hinter dem „eisernen Vorhang“, der sie nicht nur von Reisen, sondern auch von Informationen aus dem Rest der Welt abgeschnitten hat. Im Gegenteil, Webportale wie InoSMI.ru, auf denen täglich zahlreiche rußlandbezogene Artikel aus der internationalen Presse ins Russische übersetzt werden, erfreuen sich großer Beliebtheit. D.h. „Iwan-Normalbürger“ weiß recht genau, wie negativ und z.T. feindselig im Ausland über ihn und sein Land geschrieben wird.
Es liegt auf der Hand, daß dies innerhalb der rußländischen Gesellschaft nicht ohne Rückwirkungen bleiben kann. Die von manchen ausländischen Beobachtern beklagte „anti-westliche“ Stimmung der letzten Jahre ist zu einem Großteil darauf zurückzuführen. Politik und Medienberichterstattung des „Westens“ gegenüber Rußland sind für manche Russen die Bestätigung dafür, daß die Feindbilder sowjetischer Provenienz gar nicht so falsch gewesen sein können. Und damit dreht sich die Spirale des „alten Denkens“ weiter …

Der Begriff erinnert natürlich an das von Michail Gorbatschow in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre propagierte „Neue Denken“ in der Außen- und Sicherheitspolitik. Bedauerlicherweise sind diese Ansätze der gemeinsamen Sicherheit, wie sie auch für die OSZE geplant waren, schon lange steckengeblieben und werden nur noch selten, je nach aktuellem Bedarf, instrumentalisiert. Die OSZE kann die ihr zugedachte Rolle eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems nicht erfüllen, weil einige Staaten ein (auch in Übersee aktives) Militärbündnis bevorzugen. Erfreulicherweise wurde auf der Konferenz auch von deutscher Seite mehrfach eine größere Bedeutung der OSZE angemahnt, auch wenn das von Präsident Medwedew vorgeschlagene Projekt eines Vertrages über europäische Sicherheit keinerlei Aussichten auf eine Realisierung hat.

Ein letzter Punkt, der nicht nur von Wittmann, sondern auch von anderen deutschen Teilnehmern betont wurde, war die Aufforderung, die Deutschen sollten in den Beziehungen zu Rußland Alleingänge vermeiden und nur in Abstimmung mit ihren Partnern in NATO und EU agieren. Grund hierfür seien historisch bedingte Befindlichkeiten in den neuen Mitgliedsstaaten der beiden Organisationen. Die wechselvolle Geschichte z.B. Polens als Argument gegen gute deutsch-russische Beziehungen anzuführen, halte ich für gewagt. Denn entgegen der von einigen polnischen Nationalisten verbreiteten Mythen war Polen im 20. Jahrhundert keineswegs ein wehrloses Opfer „der Russen“. Nicht nur der 1919 vom Zaun gebrochene Krieg, der die Eroberung eines Intermarium genannten polnischen Imperiums bezweckte und u.a. zur Einnahme von Kiew führte, spricht dagegen. Erstaunlich ist, daß dieser Konflikt von manchen polnischen Historikern heute als „Verteidigungskrieg“ verkauft wird (passenderweise in englischer und deutscher Sprache). Bemerkenswert ist ferner, daß von den 16000 bis 20000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die zwischen 1919 und 1924 in polnischem Gewahrsam umgekommen sind, heute kaum noch gesprochen wird, während alle Welt weiß, was 1940 in Katyn und anderen Orten geschehen ist. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen …

Wenn bestimmte Kreise in den osteuropäischen Staaten meinen, einen großteils irrationalen Russenhaß pflegen zu müssen, um ihre nationale Identität zu erhalten, dann ist dies bedauerlich genug. Wir Deutschen sind durch unsere Mitgliedschaft in NATO und EU jedoch nicht dazu verpflichtet, uns die dort populären Geschichtsklitterungen und -mythen zu eigen zu machen. Die Abläufe waren zumeist erheblich komplexer und weniger schwarz-weiß.
Des weiteren legen neuere Forschungen den Schluß nahe, daß die Mitgliedsstaaten von Warschauer Vertrag und RGW keineswegs die willenlosen Objekte sowjetischer Vorherrschaft waren, als die sie heute oft dargestellt werden. Im Gegenteil, die Führungen dieser Staaten haben konsequent eigene Ziele verfolgt und sie der SU bisweilen sogar aufgezwungen. Auch hinsichtlich dieses Punktes wird die Historiographie in den nächsten Jahren hoffentlich dazu beitragen, ein realistischeres Bild der jüngeren Geschichte zu zeichnen.

Zudem sollte nicht vergessen werden, mit welchen Argumenten in den 1990er Jahren in der deutschen Öffentlichkeit die NATO-Osterweiterung beworben wurde. Da hieß es z.B., man dürfe kein Sicherheitsvakuum in Europa entstehen lassen, weshalb die Einbindung der osteuropäischen Staaten in die NATO auch im Interesse Rußlands liegen sollte. Ein interessantes Argument – doch hat die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt, daß es nicht zutrifft.
Der Schutzmantel der NATO-Mitgliedschaft hat insbesondere in den drei baltischen Republiken dazu geführt, daß deren Politik immer konfrontativer wurde. Und zwar nicht nur gegenüber der RF als Staat, sondern auch gegenüber den jeweiligen ostslawischen Minderheiten. So sind mittlerweile aus Estland mehrere Fälle bekannt, in denen estnische Ärzte russischsprachigen Patienten die Behandlung verweigert und beschimpft haben – sogar dann, wenn die Patienten bereits die estnische Staatsbürgerschaft erworben hatten (was bekanntlich nicht ganz einfach ist). Dieses Verhalten ist skandalös und hat – zu Recht – zur Entlassung der betreffenden Ärzte geführt.

Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß offenkundig Teile der baltischen Mehrheitsbevölkerung einem radikalethnischen Nationalismus huldigen, welcher in den selbsternannten „Wertegemeinschaften“ NATO und EU eigentlich keinen Platz haben sollte. Beide Organisationen werden im Baltikum jedoch vor allem als Schutzschild gegen „die Russen“ wahrgenommen, so daß man seinem Haß auf die ungeliebten Mitbürger nunmehr freien Lauf lassen kann, ohne auf den Nachbarn Rußland noch irgendwelche politischen Rücksichten nehmen zu müssen.
Insofern haben NATO und EU bei der Krisenprävention kläglich versagt; ihre Osterweiterung hat im Ergebnis nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit geführt.
Dieser Befund sollte hierzulande im Auge behalten werden, wenn einige osteuropäische Hardliner von den Deutschen wieder einmal bedingungslose Solidarität für ihren partikularen Kampf gegen Rußland fordern und dabei versuchen, mit Emotionen zu spielen.

Leider hat Wittmann nur wenig zur militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und der RF gesagt. Er erwähnte zwar gemeinsame Ausbildungs- und Forschungsaktivitäten, doch blieb z.B. die seit Jahren anstandslos laufende Kooperation bezüglich Afghanistan, z.B. die deutschen Truppen- und Gütertransporte auf dem Land- und Luftweg, ungenannt.

Zum Abschluß der Konferenz zog Nikolaj Schmeljow sein Resümee. Er betonte, daß Rußland seinem Selbstverständnis nach ein europäisches Land war und ist, das jedoch aufgrund seiner geographischen Lage zwangsläufig auch Interessen in Asien wahrzunehmen hat. Schmeljow hält alle Diskussionen über eine Mitgliedschaft Rußlands in NATO oder EU für absurd, denn beide Organisationen würden sich schon allein wegen der räumlichen Ausdehnung damit übernehmen. Wünschenswert sei vielmehr eine enge Kooperation, wie sie sich etwa in Gestalt des eurasischen Transportkorridors anbiete. Mit Blick auf die derzeitige Krise in der Finanzpolitik der EU meinte er, daß Rußland sich kein am Boden liegendes Europa wünschen könne. Schmeljow hat, wie auch andere russische Teilnehmer, wert darauf gelegt, daß Europa nicht mit der Organisation „EU“ identisch ist. Das oft gemachte sprachliche Gleichheitszeichen zwischen beiden Termini sei fehl am Platze.


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Samstag, 4. Juni 2011

Die deutsche Frage II

Seit der politischen „Wende“ in den Jahren 1989 bis 1991 haben sich in vielen osteuropäischen Staaten seltsame Wandlungen zugetragen. Manch früherer hochrangiger KP-Funktionär warf plötzlich sein Parteibuch weg und behauptete, im Grunde seines Herzens schon immer Antikommunist gewesen zu sein. Andere maßgebliche Herren versuchten, ihre eigene Rolle kleinzureden, indem sie sich im Nachhinein selbst zu bloßen Befehlsempfängern Moskaus degradierten, deren Einfluß gegen Null gegangen sei. Damit werden meist zwei Ziele verfolgt. Zum einen will man sich von den Vorwürfen der einstigen Opposition exkulpieren, zum zweiten möchte man sich selbst in die veränderten Gesellschaften, in denen das Nationale oft stark betont wird, integrieren.
Ist diese Strategie erfolgreich, dann werden „die Sowjets“ oder, vulgärer und aktueller formuliert, „die Russen“ für sämtliches Ungemach verantwortlich gemacht. Auf diese Weise werden der Pole Dzierzynski oder die Georgier Stalin und Berija u.a. kurzerhand zu Russen erklärt und schon ist eine Geschichtsinterpretation gegeben, mit der alle Nationalisten in Polen, Georgien und andernorts leben können. An die Stelle der komplexen und schwierigen Geschichtsaufarbeitung tritt so das Schüren von Ressentiments.

Letzteres wird man von ehemaligen Funktionären der DDR nicht in jedem Fall behaupten können. Hier überwiegt vielmehr der Ärger über den angeblichen Verrat, den die Sowjetunion 1989/90 an der DDR begangen habe. Anstatt dem sozialistischen deutschen Teilstaat in einer schwierigen Phase beizustehen, habe Michail Gorbatschow seine ostdeutschen Genossen feige an den Westen verkauft und sie damit der Willkür des Klassenfeindes überlassen. Man könnte dies als eine Art ostdeutsche Dolchstoßlegende bezeichnen. Dabei wird allerdings übersehen, daß die sowjetische Politik seit 1945 viel stärker gesamtdeutsch orientiert war, als es der SED-Führung lieb war und lieb sein konnte. Die DDR in ihrer von der BRD stark abgeschotteten Existenz wurde in Moskau eher als „Second-best“-Lösung gesehen. Für die Zeit von der Mitte der 1940er bis Mitte der 1950er Jahre wurde dies von Wilfried Loth schon überzeugend herausgearbeitet (vgl. „Stalins ungeliebtes Kind“, Berlin 1994, und daran anknüpfend „Die Sowjetunion und die deutsche Frage“, Göttingen 2007). Loths Erkenntnisse korrespondieren mit den Erinnerungen des bekannten sowjetischen Diplomaten Valentin Falin aus den 1970er Jahren, insbesondere hinsichtlich der Haltung Erich Honeckers zur deutschen Frage (vgl. „Politische Erinnerungen“, München 1993).

Einer der am häufigsten debattierten Fragen ist die nach der Verantwortlichkeit für die Schließung der Berliner Sektorengrenze am 13. August 1961. Jüngst sind mehrere Schriften erschienen, in denen eine „Schuld“ ostdeutscher Politiker für dieses von manchen bis heute als traumatisch empfundene Ereignis geleugnet wird. Heinz Keßler und Fritz Streletz ziehen sich in ihrem Buch „Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben“ (Berlin 2011) darauf zurück, daß die DDR mit dem Mauerbau nur einen Auftrag des Warschauer Vertrages und damit der UdSSR ausgeführt habe. Noch weiter geht Eberhard Rebohle, der Walter Ulbricht von jeder Mitverantwortung freispricht:
"[…]

Mit dieser Zusage hatte Chruschtschow auf der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses Anfang August in Moskau die Entscheidung des Kreml mitgeteilt, um die Westsektoren Berlins eine Grenze zu errichten und auch die Staatsgrenze West der DDR zu befestigen. Es handelte sich schließlich nicht um eine einfache Staatsgrenze, sondern um die westliche Grenze des östlichen Verteidigungsbündnisses, dessen Führungsmacht die Sowjetunion war. Also wies Chruschtschow die DDR an, entsprechende Maßnahmen vorzunehmen. Das geschah am 13. August 1961 und in den nachfolgenden Wochen.

Insofern hatte Walter Ulbricht durchaus die Wahrheit gesagt, als er im Frühsommer auf die Frage einer westdeutschen Journalistin erklärte, dass niemand in der DDR die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Nein, das hatte weder er noch ein anderer hierzulande wahrlich vor. Die Weisung wurde in Moskau erteilt, und das zu einem späteren Zeitpunkt.

Natürlich verteidigte die DDR diese Entscheidung, auch wenn sie nicht die ihre war. Schließlich gehörte sie einem Bündnis an, wo es sowohl eine Treuepflicht gab wie aber auch den Durchsetzungsanspruch und auch die -fähigkeit der Führungsmacht. Diese stand schließlich mit einer ‚Gruppe der sowjetischen Streitkräfte’ (GSSD) auf dem Territorium der DDR. Eine halbe Million Mann, verteilt auf 750 Standorte. Hätte Ulbricht diese Maßnahme abgelehnt, wären seine Tage als Staats- und Parteichef gezählt gewesen.

[…]" (Rebohle: „Rote Spiegel“, Berlin 2009, S. 46.)
Diese Behauptungen sind, um es vorweg zu sagen, Unfug und lassen sich quellenmäßig nicht belegen. Es ist das Verdienst der amerikanischen Historikerin Hope M. Harrison, dem in ihrem 2010 erschienen Buch „Ulbrichts Mauer – Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach“ entgegengetreten zu sein.

Harrison beginnt mit ihrer Darstellung in etwa dort, wo Wilfried Loth aufgehört hat: im Jahr 1953. Beide Autoren zeigen, daß insbesondere Ulbricht einen Kurs verfolgte, der auf eine strikte Abgrenzung der DDR von der BRD gerichtet war, um in seinem Teil Deutschlands einen sozialistischen Staat aufbauen zu können. Hinsichtlich des „Aufbaus des Sozialismus“ waren die Sowjets immer die Bremser, zumal dadurch seit 1952 der Flüchtlingsstrom in die BRD anschwoll.
Das Flüchtlingsproblem wurde anfangs in Moskau sogar ernster genommen als in Ost-Berlin. Daraus resultierte auch die Divergenz der Meinungen über seine Lösung. Während die sowjetische Führung mehrfach auf eine politische und ökonomische Lösung drängte, um die Menschen zum Bleiben zu bewegen, stand für viele höhere SED-Funktionäre schon seit 1953 fest, daß es einer vollständigen Schließung der Grenzen der DDR bedürfe. Der von Moskau im Mai/Juni 1953 angeregte „Neue Kurs“, mit dem harte Maßnahmen (z.B. Erhöhungen der Arbeitsnormen, Kampf gegen die Kirchen) aufgehoben wurden, versandete in den Folgemonaten.

Ulbricht blieb stur – auch, als 1956 in der UdSSR eine vorsichtige Entstalinisierung begann. Er behauptete einfach, in der DDR habe es nie einen Personenkult gegeben, weder um Stalin noch um den Genossen Walter aus Leipzig. Dabei waren es die von Ulbricht anläßlich seines 60. Geburtstages am 30.06.1953 geplanten pompösen Feierlichkeiten gewesen, die großen Unmut bei Stalins Nachfolgern erregt hatten. Doch Ulbricht gelang es, angesichts der Krisen des 17. Juni 1953 und der Folgejahre (z.B. Ungarn 1956), im Amt zu bleiben. Mehr noch, er konnte, obwohl ihn seine innerparteilichen Gegner im Juni 1953 schon fast abgesetzt hatten, seine Stellung festigen und diese Gegner (z.B. Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt) aus der SED werfen lassen. Die Zügel wurden angezogen und die sowjetische Seite stimmte dem partiell zu, vor allem aus Angst, daß die DDR anderenfalls einfach zusammenbrechen könnte.

Damit waren die Chancen auf eine (maßvolle) Liberalisierung der Verhältnisse in der DDR gesunken. Der Aufbau des Sozialismus ging weiter und immer mehr Menschen konnten oder wollten dabei nicht mitmachen. Das Problem der „Republikflüchtlinge“ war für die DDR nicht nur prestigeschädigend (schließlich wollte man das bessere Deutschland sein), sondern langsam auch ökonomisch bedrohlich, weil viele gut ausgebildete Fachkräfte das Land verließen.
1960/61 spitzte sich die Lage zu und Ost-Berlin drängte immer stärker auf eine „administrative“ Lösung, also die vollständige Abriegelung der Grenzen der DDR. Chruschtschow war davon nicht angetan, aber auch er konnte sich dem Druck nicht länger entziehen. Doch er wollte eine solche Entscheidung nicht isoliert treffen, damit später niemand behaupten konnte, Moskau habe den Mauerbau befohlen. Deshalb fanden im Sommer zwei Tagungen des Warschauer Vertrages statt, auf denen das Problem diskutiert und schließlich der Beschluß gefaßt wurde, Ulbrichts Ansinnen zuzustimmen. Ziel war, ein „Ausbluten“ der DDR und eine damit einhergehende Schwächung des sozialistischen Lagers zu verhindern.

Es ist absurd, wenn man daraus einen Auftrag der WV-Staaten an die DDR macht, den man ohne eigenes Wollen oder Zutun habe ausführen müssen. Im Gegenteil: Ohne die massiven, seit Jahren vorgetragenen Forderungen von Ulbricht und seinen Genossen wäre dieser gemeinsame Beschluß des WV nie zustande gekommen und demzufolge auch die Berliner Mauer nicht errichtet worden.
Diese Erkenntnisse sind freilich nicht gänzlich neu. Schon vor sind die einschlägigen Dokumente ediert publiziert worden. Neu an Harrisons Darstellung ist die Einbeziehung eines längeren Zeitabschnitts (1953-1961), weshalb sie anhand der politischen Ereignisse dieser Jahre die maßgebliche Verantwortung Walter Ulbrichts noch besser belegen kann. Er wollte um jeden Preis seinen kleinen sozialistischen Staat behalten. Im Umgang mit Gegnern setzte er sowohl im Außenverhältnis als auch innerhalb der SED i.d.R. einseitig auf Konfrontation.

Des weiteren gelingt es Harrison, den Blick zu weiten und verschiedene politische Ereignisse in die Betrachtung mit einzubeziehen, angefangen vom Fall Berijas 1953 über den Einfluß z.B. Polens in der Mauerfrage bis zum Konflikt zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion Ende der 50er Jahre. (Der WV war kein monolithischer Block, man denke nur an die Sonderrole, die Rumänien seit Beginn der 70er Jahre spielte, indem es de facto aus den militärischen und nachrichtendienstlichen Kooperation ausschied.)
Ferner ist es der Autorin möglich, die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR in ihrer gesamten Komplexität darzustellen. Es handelte sich um ein vielschichtiges Patron-Klient-Verhältnis, bei dem die DDR, der nach außen schwach wirkende Klient, in Wirklichkeit meist der stärkere „Superverbündete“ war. Diese theoretische Fundierung erhöht den Wert von Harrisons Studie auch für die Analyse andere Probleme der internationalen Beziehungen.

Zu guter Letzt darf allerdings nicht vergessen werden, daß Ulbricht mit seiner Politik, die eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands bewirkte, nicht allein stand. In Westdeutschland hatte er mit Konrad Adenauer einen kongenialen Partner. Adenauer, der „rheinische Separatist“, hatte sich mit der Bundesrepublik Deutschland einen Staat geschaffen, der seinen persönlichen Vorlieben entsprach: Stark katholisch geprägt und von den verderblichen Einflüssen des Protestantismus und Preußentums abgeschnitten. (Legendär ist ja, daß Adenauer immer, wenn er in der Zwischenkriegszeit mit der Reichsbahn von Berlin nach Hause fuhr, auf der Magdeburger Elbbrücke ausspuckte.) Auch er wollte um jeden Preis nicht nur seine persönliche Macht, sondern auch seinen westdeutschen Teilstaat behalten und zog daher eine in EG und NATO integrierte BRD einer gesamtdeutschen Lösung vor. Was dem einen das Großexperiment eines „Sozialismus auf deutschem Boden“, war dem anderen die „Westbindung“.

Mithin war die deutsche Teilung nicht nur Schicksal oder eine Folge des Zweiten Weltkrieges und des Willens der vier Siegermächte, sondern auch das Ergebnis der Politik zweier deutscher Staatsmänner, die konträre Ideologien und Konzepte verfolgten und für deren Realisierung jeweils einen eigenen Staat benötigten. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb für Deutschland eine Lösung wie in Österreich nie in Betracht kam.

En passant räumt Harrison noch mit anderen Mythen auf, die sich gerade in Ostdeutschland gebildet haben. Damit ist zuvörderst die Auffassung gemeint, die DDR wäre von der Sowjetunion wirtschaftlich ausgebeutet worden. Nunmehr wird jedoch deutlich, daß es sich umgekehrt verhalten hat und die DDR zumindest während der 1950er Jahre in erheblichem Umfang auf Wirtschaftshilfe aus der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten angewiesen war und ihne diese Hilfe vermutlich nicht überlebt hätte.

Überhaupt war die Ökonomie die Achillesferse der DDR und des gesamten Warschauer Vertrages. Harrison stellt dar, daß nicht nur die DDR, sondern etwa auch die Tschechoslowakei und Ungarn, stark vom Außenhandel mit kapitalistischen Staaten abhängig waren. Folglich fürchtete man in diesen Staaten ein totales Wirtschaftsembargo der NATO-Mitglieder. Daraus resultierte eine große Vorsicht in der Außenpolitik. Jeder Schritt wurde sorgfältig auf seine Wirkung hin abgewogen. Damit erscheint der Mauerbau von 1961 als äußerste, gerade noch akzeptable Maßnahme.

Man könnte diesen Zusammenhang noch weiter thesenartig zuspitzen (und müßte ihn dann eingehend untersuchen): Das „sozialistische Lager“ oder, wie es großspurig hieß, das „sozialistische Weltsystem“ der zweiten Hälfte des 20. Jh. konnte nur deshalb solange existieren, weil es kapitalistische Staaten gab, die mit ihm Handel trieben und die Weltwirtschaft insgesamt (in der Regel) kapitalistisch funktionierte. Dies war den verantwortlichen Politikern meist wohl auch klar, zumindest im Unterbewußtsein. Ihnen ging es, gerade in der Spätphase nach 1970, oft nur darum, die eigene Bevölkerung mit Konsumgeschenken bei Laune zu halten.
Deshalb konnte aus ihrer Perspektive eine „Weltrevolution“, die den Sozialismus auf dem ganzen Globus ausgebreitet hätte, nicht wünschenswert sein. Die friedliche Koexistenz der beiden Systeme, von der seit Chruschtschow vermehrt die Rede war, stellte somit keine hohle Phrase dar, sondern war eine Existenzebdingung des Sozialismus. Mithin stellen sich auch alle militärischen Planungen so dar, daß sie tatsächlich als Vorneverteidigung gemeint waren, nicht jedoch als Aggressionsabsicht gegenüber der NATO. Schließlich war man ökonomisch auf den „Klassenfeind“ angewiesen.


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